Mietendeckel-Aus und Business Judgement Rule

Dr. Matthias Birkholz
Donnerstag, der 22. April 2021

Die Business Judgement Rule gibt Unternehmenslenker*innen bei unternehmerischen Entscheidungen einen weiten Ermessenspielraum. Wie weit dieser ist, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen von Wohnungsunternehmen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel. Diese decken die gesamte Bandbreite der möglichen zulässigen Handlungsoptionen bei einer nicht ganz einfachen unternehmerischen Entscheidung ab.

Worum geht es?

Da die von dem für nichtig erklärten Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin („Mietendeckel“) reduzierten Mieten in Wirklichkeit auch seit Inkrafttreten des Gesetzes in voller Höhe geschuldet gewesen waren, aber nicht gezahlt wurden, haben die Vermieter*innen Anspruch auf Nachzahlung der insoweit nicht gezahlten Beträge. Mieter*innen stehen daher durch die drohenden Nachforderungen nicht nur vor möglicherweise gravierenden finanziellen Herausforderungen, sondern müssen sogar befürchten, ihre Wohnung aufgrund einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs zu verlieren. Einerseits werden bereits Stimmen nach finanziellen Hilfen der öffentlichen Hand für betroffene Mieter*innen laut. Andererseits wendet sich der Blick hin zu den Wohnungseigentümer*innen und Wohnungsunternehmen mit der Forderung, diese sollten doch sozial verträglich agieren und die Interessen der Mieter*innen angemessen berücksichtigen. Aus Sicht der Mieter*innen heißt das: am Besten ganz von Nachforderungen absehen.

Unterschiedliche Reaktionen betroffener Unternehmen

Die Reaktionen der betroffenen Unternehmen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die börsennotierte Vonovia AG erklärte z.B., man wolle eine weitere Verunsicherung der Mieter vermeiden und auf eine Nachforderung verzichten. So hieß es von Seiten des Unternehmens bereits unmittelbar nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „Wir haben uns deshalb entschieden, keine Mieten nachzufordern, die uns jetzt aufgrund der Entscheidung rechtlich zustehen würden. An erster Stelle steht für uns das Wohl der Menschen, die bei uns wohnen. Ihnen sollen keine finanziellen Nachteile aufgrund getroffener politischer Entscheidungen entstehen. Mit unserer Zusage an die Mieterinnen und Mieter setzen wir ebenfalls ein Signal, dass es keine weitere Eskalation rund um bezahlbares Wohnen in der Hauptstadt geben darf.“ 

Keinen generellen Verzicht soll es hingegen unter anderem von der ebenfalls börsennotierten Deutsche Wohnen AG geben. Die Begründung des Unternehmens dafür: “Auf den Ausgleich der Außenstände komplett zu verzichten, würde jedoch unseren Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Eigentümern nicht gerecht werden.”

Gleichzeitig betont auch die Deutsche Wohnen: „Keine Mieterin und kein Mieter der Deutsche Wohnen wird durch die Entscheidung die Wohnung verlieren, wir werden mit dem größten sozialen Verantwortungsbewusstsein vorgehen.“ In sozialen Härtefällen werde das Unternehmen gemeinsam mit den Mieter*innen individuelle Lösungen finden.

Business Judgement Rule gibt den Rahmen vor

Den Rahmen zur Beurteilung des Vorstandshandelns gibt auch in diesen Fällen die Business Judgement Rule vor. Natürlich darf der Vorstand einer Aktiengesellschaft das Gesellschaftsvermögen nicht verschwenden. Auch wenn der Gesellschaftszweck eines Gewerbebetriebs regelmäßig in der Gewinnerzielung liegt, folgt daraus nicht, dass wirtschaftlich unmittelbar nachteilige Verhaltensweisen in jedem Fall zwingend  verboten sind. Ziel des Unternehmens muss eine nachhaltige Gewinnerzielung sein. Der Vorstand ist danach zu bei langfristiger Perspektive renditeorientiertem Handeln verpflichtet. Auch wirtschaftlich unmittelbar nachteilige Geschäfte sind daher jedenfalls dann zulässig, wenn vernünftigerweise langfristige Vorteile zu erwarten sind. Umgekehrt muss der Vorstand auch bei Durchsetzung begründeter Ansprüche die damit möglicherweise verbundenen weiteren Folgen, etwa für die Reputation des Unternehmens, berücksichtigen und gewichten.

Der Vorstand ist daher zwar grundsätzlich gehalten, Ansprüche der Gesellschaft auch durchzusetzen. Allerdings kann er (und muss gegebenenfalls) davon absehen, wenn die damit verbundenen Schäden, etwa ein Reputationsverlust, größer sind als der zu erwartende wirtschaftliche Vorteil. Im Interesse langfristiger Perspektiven und künftiger Geschäftschancen kann es im Einzelfall durchaus sachgerecht sein, kurzfristig auf die Erzielung eines Gewinns zu verzichten.

Ex-Ante Prognose erforderlich

Ein Verzicht auf die Nachforderung von Mietern kann vor diesem Hintergrund dann dem Unternehmensinteresse entsprechen, wenn aufgrund einer angemessenen Unternehmensgrundlage getroffenen ex-ante-Prognose angenommen werden kann, dass der Gesellschaft aufgrund des Verzichts Vorteile erwachsen, die den mit dem Verzicht verbundenen Nachteilen mindestens entsprechen. Auch bei der Frage der Rückforderung von Mieten kommt es dabei auf die individuelle Situation des betroffenen Unternehmens an, unter anderem also darauf, wie viele Wohnungen das Unternehmen in Berlin hat und wie hoch damit die mit einem etwaigen Verzicht verbundenen Nachteile sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Höhe des erwarteten Vorteils (Reputationsgewinn, Vermeidung von Reputationsnachteilen) ebenso zu gewichten wie die Wahrscheinlichkeit des Vorteilseintritts. Es ist Sache des Vorstands, in der jeweiligen Situation des Unternehmens hier eine Prognoseentscheidung zu treffen. Begründungsbedürftig ist die Entscheidung in jedem Fall.

Weiter Ermessensspielraum als safe haven

Die erforderliche Abwägung ist auf den ersten Blick nicht einfach, vor allem weil Reputationsschäden und Reputationsvorteile naturgemäß allgemein schwer zu gewichten sind. In Wirklichkeit dürfte die Business Judgement Rule in den allermeisten Fällen auch hier aber als eine Art safe haven für Unternehmenslenker*innen wirken. Nicht erforderlich ist nämlich, dass die Gewährung der Kulanzleistung des Forderungsverzichts (oder umgekehrt die Durchsetzung von Ansprüchen) sich aus einer ex-post-Perspektive als dem Unternehmensinteresse dienend darstellt, sondern es reicht bereits aus, dass der/die Geschäftsleiter*in hiervon aus einer ex-ante-Sicht ausgehen durfte. Dabei hat der Vorstand bei seiner unternehmerischen Entscheidung ein weites Ermessen. Eine Verletzung von Sorgfaltspflichten ist vor diesem Hintergrund nur dann zu bejahen, wenn ein schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln vorliegt. Das aber ist nur dann der Fall, wenn ein Leitungsfehler auch für einen Außenstehenden derart evident ist, dass sich das Vorliegen eines Fehlers förmlich aufdrängt. Eine Schadensersatzpflicht kommt dabei erst in Betracht, wenn die Grenzen der unternehmerischen Leitungssorgfalt „deutlich überschritten“ sind bzw. die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, „in unverantwortlicher Weise“ überspannt wurde. Diese Schwelle ist – und das ist aus Sicht des Vorstands in der Regel überaus komfortabel – sehr hoch.

Dokumentation der Entscheidungsfindung und Abwägung

Entscheidende Bedeutung erlangt in dieser Situation die Dokumentation der Entscheidungsfindung. Dabei geht es darum, die tragenden Entscheidungsgründe und die Abwägungsgründe für die gewählte Handlungsalternative nachvollziehbar zu dokumentieren. Wenn das der Fall ist, dürfte sich – gemessen an der Sorgfaltspflicht des Vorstands – unschwer beides rechtfertigen lassen: sowohl die Geltendmachung, als auch die Nichtgeltendmachung von Ansprüchen gegenüber Mieter*innen in der Folge der Mietendeckel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

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