Sustainable Corporate Governance – Ende des Greenwashing im Gesellschaftsrecht?
Die Diskussion um die Berücksichtigung von ESG-Belangen im Rahmen der Corporate Governance wird in Deutschland gern von einer Art Greenwashing geprägt. Diese Themen seien bereits ohnehin in angemessenem Umfang im Rahmen der Corporate Governance zu berücksichtigen, hört man häufig.
Die Zeiten, in denen man damit durchkam, könnten bald vorbei sein. Die nächste Stufe der EU-Regulierung hin zu einer verstärkten Berücksichtigung von ESG-Aspekten wird nämlich vermutlich eine Richtlinie zu Corporate Sustainable Governance bringen. Die EU-Kommission forderte bereits Ende 2019 in ihrem European Green Deal eine verstärkte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten im Rahmen der Corporate Governance. Auch die im Februar 2021 abgeschlossene Konsultation der EU-Kommission zu diesem Thema hatte unter anderem bereits eine entsprechende Ausweitung der gesellschaftsrechtlichen Duty of care zum Gegenstand. Mit einer dementsprechend bald zu erwartenden Richtlinie zu diesem Thema droht eine entsprechende Pflicht nunmehr zum Umsetzungsauftrag auch für den deutschen Gesetzgeber zu werden.
Damit geht es für die deutsche Gesellschaftsrechtsdogmatik ans Eingemachte. Der Deutsche Anwaltverein hat, nicht überraschend, in seiner Stellungnahme zu der EU-Konsultation eine solche Pflicht in Bausch und Bogen mit der Begründung abgelehnt, dass nach dem Ermessen der Unternehmenslenker*innen Stakeholderinteressen bereits heute zu berücksichtigen seien. Jede Pflichtenerweiterung sei daher nicht nur unnötig, sondern führe zu „legal uncertainty which makes it nearly impossible to lead a company with a clear focus on the corporate interest“.
Verhältnis von Unternehmensinteresse und Nachhaltigkeit
Der Schlüssel zur Lösung der Frage liegt im Verhältnis von Unternehmensinteresse und Nachhaltigkeit. Nachhaltiges Wirtschaften im Sinne einer Berücksichtigung von ESG-Belangen jenseits konkreter gesetzlicher Vorgaben gehört bei genauer Betrachtung aber gerade nicht zwangsläufig zu den Pflichten deutscher Unternehmenslenker*innen. Im Gegenteil, die Berücksichtigung derartiger Belange kann sogar pflichtwidrig sein. Dem steht nur auf den ersten Blick die Inflation der Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit im Gesellschaftsrecht entgegen. So war etwa, wenn im Aktienrecht an verschiedenen Stellen seit etwa 20 Jahren von nachhaltiger Wertschöpfung und nachhaltiger Ertragserzielung die Rede war, damit lediglich „nachhaltig“ als Gegensatzbegriff zu kurzfristig gemeint. Das ist zunächst einmal jedoch etwas anderes völlig anderes als die mit Sustainability bezeichnete inhaltliche Bezugnahme auf ESG-Belange. Auch verbrecherische Aktivitäten können in diesem Sinne nachhaltig ertragsteigernd wirken. Erst 2019 wurde die Regelung zur Vorstandsvergütung in § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG ergänzt, so dass dort nunmehr von „langfristig und nachhaltig“ die Rede ist und „nachhaltig“ auf diese Weise materiell und nicht zeitlich bestimmt wird.
Auch nicht verwirren lassen darf man sich von dem Umstand, dass im deutschen Gesellschaftsrecht die Diskussion um die Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen eine lange Tradition hat. Man kann diese charakterisieren mit dem Satz „Talk is cheap“.
§ 70 AktG 1937, der – mit nationalsozialistischer Diktion – eine Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen forderte, wurde im Zuge der Reform des Aktiengesetzes 1965 zwar durch § 76 AktG ersetzt, mit dem allein das Unternehmensinteresse zum Maßstab des Vorstandshandelns gemacht wurde. Allerdings meinte man damals, auf den ausdrücklichen Gemeinwohlbezug deswegen verzichten zu können, weil dieser ohnehin selbstverständlich sei. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen war für den Gesetzgeber vor diesem Hintergrund außer Frage. Und sie ist auch heute nicht wirklich umstritten.
„Unternehmensinteresse“ – ein schillernder und ausfüllungsbedürftiger Begriff
Oberste Richtschnur unternehmerischen Handels einer Kapitalgesellschaft in Deutschland ist allerdings das Unternehmensinteresse. Sowohl bei der AG als auch bei der GmbH bildet es den entscheidenden Maßstab für das pflichtgemäße Handeln der organschaftlichen Vertreter*innen der Gesellschaft. Leider ist „Unternehmensinteresse“ aber ein schillernder und ausfüllungsbedürftiger Begriff. Er ist auf eine diffuse Art „voraussetzungsleer“, weil seine Bedeutung kaum aus sich selbst heraus bestimmt werden kann. Seine Ausfüllung dient vielmehr in der Regel als Mittel zur Erreichung einer aus anderen Erwägungen für angemessen gehaltenen Rechtsfolge.
Und da beginnt es spannend zu werden. Die entscheidende Frage ist, ob sich – wie die auf nachhaltige Wertschöpfung im Unternehmensinteresse bezogene Formulierung in der Präambel des DCG nahelegt – diese Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen ökonomisch rechtfertigen lassen muss. Zugespitzt fragte bereits 2018 Jochen Vetter in einem Beitrag in der ZGR: „Muss sich Ethik lohnen?“.
Die herrschende Meinung der deutschen Gesellschaftsrechtler*innen ist dieser Auffassung. Alle schönen Worte zur Einbeziehung von diversen Stakeholderinteressen sowie von Ethik und Verantwortung sind auf diese Weise im Kern immer auf das Ertragsinteresse bezogen und durch dieses begrenzt. So spricht unter anderem die im Jahr 2017 neu gefasste Präambel des CGK von der Notwendigkeit eines ethisch fundierten, eigenverantwortlichen Handelns (Leitbild des ehrbaren Kaufmanns), bezieht dies aber ausdrücklich auf das Unternehmensinteresse. Und dieses besteht für den Kodex aus dem Bestand des Unternehmens und dessen nachhaltiger Wertschöpfung, wenngleich in diesem Rahmen auch alle möglichen anderen Belange jenseits der unmittelbaren Ertragsmaximierung zu berücksichtigen sind.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die gängige bejahende Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von ESG-Belangen im Rahmen der Corporate Governance verstehen. Natürlich können ESG-Belange Auswirkungen auf die nachhaltige Ertragslage des Unternehmens haben. So mag es zwar kurzfristig im Unternehmensinteresse liegen, (im gesetzlich erlaubten Rahmen) die Umwelt zu schädigen. Aber natürlich kann ein derartiges Verhalten mögliche Reputationsrisiken mit sich bringen, die ihrerseits Ertragsauswirkungen haben können und die daher in die Betrachtung einzubeziehen sind. Ferner wird nicht-nachhaltiges Verhalten zunehmend Auswirkungen auf die Finanzierungsmöglichkeiten und -konditionen des Unternehmens haben. Die grundsätzliche Berücksichtigung von ESG-Belangen dürfte bereits vor diesem Hintergrund in der Regel nicht nur erlaubt, sondern geboten sein, wenn und soweit diese den nachhaltigen Unternehmensfolg befördern.
Problem: Gemeinwohlinteressen und Unternehmensinteressen können zusammenfallen, müssen das aber nicht
Aus der Bezugnahme des gesellschaftsrechtlichen Pflichtenkanons auf das Unternehmensinteresse ergibt sich aber auch der Kern des Problems. Gemeinwohlinteressen und Unternehmensinteressen können natürlich zusammenfallen, müssen dies aber nicht zwingend. Nicht alle Unternehmen sind tatsächlich von Konsument*innen und damit von der öffentlichen Meinung abhängig, und manchmal ist das Risiko, dass die Externalisierung von Kosten tatsächlich hinreichend auffällt und/oder zu einem wirtschaftlich merkbaren Aufschrei führt, verschwindend gering. Eine Externalisierung von Schäden kann daher im Unternehmensinteresse nicht nur kurzfristig vorteilhaft, sondern auch „nachhaltig“, also langfristig vorteilhaft sein.
Entsprechendes gilt für unter ESG-Gesichtspunkten wünschenswerte Verhaltensweisen, die klar nicht im Unternehmensinteresse liegen. Die Preisgestaltung von Covid19-Impstoffen wäre hierfür ein Beispiel. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Pfizer/Biontech die Preise für den von Biontech entwickelten Impfstoff um ¾ senken würden, um dessen Verfügbarkeit für ärmere Länder zu steigern und dadurch Menschenleben zu retten. Im wirtschaftlichen Unternehmensinteresse läge das aber ziemlich sicher nicht. Und damit wäre ein solches Verhalten nach herrschender Meinung grundsätzlich pflichtwidrig.
Zwar wird demgegenüber mitunter, etwa von Prof. Dr. Jochen Vetter in seinem genannten Artikel, darauf hingewiesen, dass es widersprüchlich wäre, wenn man einerseits unter anderem durch umfangreiche CSR-Reporting-Pflichten die Mitberücksichtigung von potentiell renditemindernden CSR-Belangen bei unternehmerischen Entscheidungen fördern will, den hierbei Handelnden aber andererseits durch das Gesellschaftsrecht eine strikte, durch persönliche Haftungsrisiken sanktionierte Pflicht zur alleinigen Unternehmenswertsteigerung auferlegte. Dementsprechend soll die Geschäftsführung Gemeinwohlbelange auch dann berücksichtigen dürfen, wenn der Unternehmenswert oder der Gewinn nicht unmittelbar gesteigert, sondern sogar negativ betroffen wird. Abgesehen von einem generellen Missbrauchsverbot soll lediglich die Gefährdung der dauerhaften Rendite oder Existenz der Gesellschaft verboten sein.
Mit dem aktuellen Recht ist diese Sicht der Dinge leider nur schwer vereinbar. Grund dafür liegt im Kern in der Fokussierung auf das Unternehmensinteresse, das eben letztlich doch zumindest mittelbar immer mit dem Bestand und dem ökonomischen Erfolg zusammenhängt. Zwar wird der safe haven der Business Judgement Rule häufig praktische Abhilfe schaffen. Auf der anderen Seite ist aber insbesondere die an die gesellschaftsrechtliche Sicht der Dinge anknüpfende Untreuestrafbarkeit nach § 266 StGB ein scharfes Schwert, das in der Praxis eine Außerachtlassung von Ertragschancen zugunsten von Gemeinwohlinteressen praktisch ausschließen kann und möglicherweise eine Externalisierung von Kosten sogar gebietet.
Und damit ist die Antwort auf die EU-Initative klar. Will man, dass Gemeinwohlinteressen im Gesellschaftsrecht stärker berücksichtigt werden, ist die Bezugnahme auf die Maxime „Doing well by doing good“, die in dem Hinweis liegt, dass die Berücksichtigung von ESG-Belangen ohnehin im Unternehmensinteresse liege, nicht gut genug.
Ausblick: Die EU ist auf dem richtigen Kurs
Stattdessen gehen die Bemühungen der EU, eine explizite Pflicht zur Einbeziehung der entsprechenden Belange in die Entscheidungen von Unternehmenslenker*innen zu statuieren, im Grundsatz genau in die richtige Richtung. Der britische Companies Act 2006 enthält ebenso wie das österreichische Aktiengesetz in seinem § 70 Abs. 1 öAktG z.B. entsprechende Regelungen. Auch und gerade im deutschen Gesellschaftsrecht ist eine Klarstellung notwendig, dass die Geschäftsleiter*innen im Rahmen des ihnen eingeräumten weiten unternehmerischen Ermessens auch ESG-Interessen abwägen dürfen und müssen, auch und wenn dies im Endeffekt zu für das Unternehmen wirtschaftlich nachteiligen Ergebnissen führt. Das Unternehmensinteresse als Bezugsgröße ist dafür offensichtlich nicht hinreichend.
Dieser Beitrag ist die leicht geänderte Fassung des Beitrags des Autors im Online-Magazin Sustainable Value 02/2021.