Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie in Deutschland
Eilig vor der parlamentarischen Sommerpause hat der Bundestag am 7. Juli 2023 das Gesetz zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie (RL (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der RL 2009/22/EG) verabschiedet, das eigentlich schon am 25. Juni 2023 hätte in Kraft treten müssen und jetzt – wenn der Bundesrat keinen Einspruch einlegt – voraussichtlich im Frühherbst in Kraft treten wird.
Das Gesetz bringt einige wichtige Änderungen im deutschen Prozessrecht und im Verjährungsrecht. Insbesondere wird eine „Abhilfeklage“ eingeführt, mit der Verbraucherverbände künftig unmittelbar zugunsten der Verbraucher auf Leistung klagen können. Das wird wird – zusammen mit der reformierten Musterfeststellungsklage – in einem neuen Stammgesetz geregelt, dem VDuG.
Außerdem werden mit dem Verbandsklagerichtlinien-Umsetzungsgesetz (VRUG) eine ganze Reihe weiterer Gesetze geändert. Unter anderem wird eingeführt, dass nicht nur die neue Abhilfeklage und die Musterfeststellungsklage verjährungshemmde Wirkung haben, sondern auch eine Unterlassungsklage nach dem UKlaG (§ 204a BGB n.F.).
Für Streit- und Auslegungsfragen wird insbesondere sorgen, dass sich die Regierungsfraktionen in letzter Minute noch auf in der Eile nicht vollends durchdachte Änderungen verständigt haben. Diese betreffen unter anderem den Zeitpunkt, bis zu dem sich teilnahmewillige Verbraucherinnen und Verbraucher anmelden müssen, sowie die Prozessfinanzierung einer Verbandsklage.
Hier ein Überblick:
Klageberechtigung
Klageberechtigt für Verbandsklagen – sowohl für Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen (VDuG) als auch für Unterlassungsklagen (UKlaG) – sind nur „qualifizierte Verbraucherverbände“ (innerstaatliche Klagen) bzw. „qualifizierte Einrichtungen“ (grenzüberschreitende Klagen). Die einzelnen Verbraucher sind nicht klageberechtigt.
Die Anforderungen an qualifizierte Verbraucherverbände für innerstaatliche Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen wurden gegenüber dem bisherigen Recht (Musterfeststellungsklage) deutlich abgesenkt. Erforderlich ist jetzt nur eine Eintragung und für Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen zudem, dass der Verband nicht mehr als 5% seiner Mittel von Unternehmensseite bezieht. Verbraucherverbände, die überwiegend (50% + x) öffentlich gefördert sind, erfüllen stets die Voraussetzungen.
Künftig werden klageberechtigte Verbände also einfacher und schneller in Position gebracht werden können.
Wesentliche Voraussetzungen einer Verbandsklage
(1) Weiter Anwendungsbereich
Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen sind nicht wie die EU-Verbandsklage auf Verstöße gegen bestimmte EU-Verbraucherschutz-Gesetze beschränkt, sondern grundsätzlich für alle (verallgemeinerbaren) Verstöße möglich. Teilnahmeberechtigt sind Verbraucher und kleine Unternehmen. Das sind – nachdem in letzter Minute die Schwellen abgesenkt wurden – solche mit weniger als 10 beschäftigten Personen und maximal 2 Millionen Euro Jahresumsatz oder Bilanzsumme.
(2) Gleichartigkeit
Abhilfeklagen setzen voraus, dass die von der Klage betroffenen Ansprüche „im Wesentlichen gleichartig“ sind. Wann das der Fall ist, ist der Einzelauslegung der Gericht überlassen. Das wird einer der Dreh- und Angelpunkte der Gesetzesanwendung werden.
(3) Verbraucherquorum
Die Abhilfeklage und auch die Musterfeststellungsklage setzen voraus, dass die Ergebnisse der Klage für mindestens 50 Verbraucherinnen oder Verbraucher (kleine Unternehmen mit eingerechnet) relevant sein können. Diese Betroffenheit muss allerdings nicht mehr (wie ursprünglich vorgesehen) im Einzelnen glaubhaft gemacht werden, sondern es reicht aus, dass der klagende Verband „nachvollziehbar darlegt“, dass Verbraucherinnen und Verbraucher in dieser Zahl „betroffen sein können“. Außerdem ist auch nicht mehr Voraussetzung, dass sich Personen in gewisser Zahl tatsächlich anmelden. Es sind daher in Zukunft auch Verbandsklagen mit sehr geringen Teilnehmerzahlen möglich.
Anmeldung der Verbraucherinnen und Verbraucher (Opt-in)
An einer Abhilfe- oder Musterfeststellungsklage nimmt nur teil, wer sich anmeldet (Opt-in – anders bei der Unterlassungklage). Eine solche Anmeldung ist möglich bis drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung. Ein Urteil darf dann erst nach diesem Zeitpunkt ergehen.
Diese Regelung wurde erst in letzter Minute in das Gesetz aufgenommen (zuvor war beabsichtigt, die Anmeldung bis zwei Monate nach dem Start der mündlichen Verhandlung zuzulassen). Sie wird noch für einige Diskussion sorgen, weil sie Vergleiche – obwohl eigentlich wünschenswert – extrem erschwert und zudem verschiedene Auslegungsfragen aufwirft.
Klageregister
Das bereits aus der Musterfeststellungsklage bekannte Klageregister bleibt und hat weiterhin zwei Funktionen: Es nimmt die Anmeldungen (und Abmeldungen) der teilnehmenden Verbraucherinnen und Verbraucher (und kleinen Unternehmen) auf, und es ist Informationsplattform. Technisch ist auch alles beim Alten. Eine Benachrichtigung über im Klageregister veröffentlichte neue Informationen per E-Mail kommt erst zum 1. Januar 2026 (einer früheren Einführung stand aus Sicht des Gesetzgebers der ausgelöste Bedarf an „technischer Anpassung“ im Weg).
Verjährungshemmung
In Zukunft hemmen Abhilfe- und Musterfeststellungs-, aber auch Unterlassungsklagen die Verjährung. Dabei kommt es nur darauf an, dass die Klage rechtzeitig erhoben wird – auch wenn die Anmeldung des einzelnen Verbrauchers erst sehr viel später erfolgt.
Abhilfeklage
Die Abhilfeklage ist das wesentliche Novum, gerade im Vergleich zur bisherigen Musterfeststellungsklage. Mit der Abhilfeklage soll der klagende Verbrand das verklagte Unternehmen unmittelbar zur Leistung an den einzelnen Verbraucher oder die einzelne Verbraucherin zwingen können, ohne dass diese noch selbst klagen müssen.
Die Idee ist, dass das Gericht (wenn nicht zuvor schon namentlich benannte Verbraucher identifiziert sind) dafür in einem ggf. mehrstufigen, aus Abhilfegrund- und Abhilfeendurteil bestehenden Verfahren die abtrakt-generellen Kriterien für das „Ob“ und das Ausmaß einer Anspruchsberechtigung der angemeldeten Personen festlegt und das verklagte Unternehmen zur Zahlung eines „kollektiven Gesamtbetrags“ verurteilt.
Diesen „kollektiven Gesamtbetrag“ nach Maßgabe der vom Gericht festgeschriebenen abstrakt-generellen Kriterien auf die einzelnen Angemeldeten zu verteilen, obliegt in einem eigenen Verfahrensabschnitt (Umsetzungsverfahren) einem vom Gericht eingesetzten und beaufsichtigten Sachwalter.
Gegen die Entscheidungen des Sachwalters gibt es ein gegliedertes Rechtsbehelfssystem (Widerspruch, gegen die Widerspruchsentscheidung Klage zum Gericht der Abhilfeklage; zudem für Einwände, die dadurch nicht geltend gemacht werden können, Klage zu den allgemeinen Gerichten).
Fazit
Viele haben sich mit der Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie und der Schaffung einer völlig neuen Klageart im deutschen Recht einen großen Wurf erhofft, weil die bisherige Musterfeststellungsklage außer dem großen Verfahren gegen VW keine nennenswerte Bedeutung hat erlangen können. Die Zeit wird zeigen, ob das mit dem VDuG gelungen ist. Lange wurde etwa um den Zeitpunkt gerungen, bis zu dem Verbraucherinnen und Verbraucher sich anmelden können. Dieser ist nun noch einmal spürbar nach hinten geschoben worden (3 Wochen nach Schluss der mündlichen Verhandlung). Zugleich droht das Verfahren mit seiner aufwendigen Zweiteilung in gerichtliches Verfahren und Umsetzungsverfahren schwerfällig zu sein. Zudem ist kommerzielle Prozessfinanzierung nur in engstem Rahmen möglich. Es kann gut sein, dass dies dazu führt, dass das Gesetz die erhoffte Entlastung der Justiz von massenhaften Einzelklagen nicht bringen wird, weil schlagkräftige privat finanzierte Klagen weiterhin außerhalb einer Verbandsklage stattfinden.