Schuldrecht 3.0 – die Digitalisierung hält Einzug ins BGB
Europäische Vorlagen: RL (EU) 2019/770 und RL (EU) 2019/771
Im Mai 2019 hat die Europäische Union zwei Richtlinien verabschiedet, deren Umsetzungen zu erheblichen Änderungen im nationale Kaufrecht führen werden: Die Richtlinie (EU) 2019/770 über bestimmte Aspekte von Verträgen über die Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (“Richtlinie über digitale Inhalte” = „DIRL“) und die Richtlinie (EU) 2019/771 zu bestimmten Aspekten von Verträgen über den Verkauf von Waren (“Warenkaufrichtlinie” = „WKRL“). Die Richtlinien ergänzen sich gegenseitig und zielen beide auf eine Vollharmonisierung der Vertragsbeziehungen zwischen Unternehmern und Verbrauchern (B2C) beim Kauf von Verbrauchsgütern sowie bei der Bereitstellung digitaler Produkte. Sie sind jeweils bis zum 1. Juli 2021 umzusetzen und gelten ab dem 1. Januar 2022. Für beide liegen bereits durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) veröffentlichte Regierungsentwürfe (Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen und Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags) vor.
Umsetzung der WKRL – Erneuerung des kaufrechtlichen Mangelbegriffs
Die Umsetzung der WKRL betrifft Verbrauchsgüterkaufverträge und ersetzt die alte Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (EU) 1999/44/EG. Neu ist, dass nun Waren mit einem digitalen Element (z. B. Smart-TVs, intelligente Kühlschränke oder intelligente Uhren) besonderen Regelungen unterliegen. Dazu werden auf der einen Seite die allgemeinen Regelungen zum Kaufvertrag überarbeitet, angepasst wird hier insbesondere der Mangelbegriff in § 434 BGB. Zum anderen werden die Bestimmungen zum Verbrauchsgüterkauf um Regelungen für Sachen mit digitalen Elementen ergänzt.
Für diese Verträge wird ein eigener Mangelbegriff in § 475b BGB eingeführt: Sachen mit digitalen Elementen sind danach nur mangelfrei, wenn sowohl die im Kaufvertrag subjektiv vereinbarten als auch die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit der Sache objektiv erforderlichen Aktualisierungen (Updates) bereitgestellt werden. Die bereits heute geltenden Anforderungen an eine ordnungsgemäße Montage werden zudem künftig durch eine Pflicht zur sachgemäßen Installation ergänzt.
Umsetzung der DIRL – personenbezogene Daten als Gegenleistung
Eine entscheidende Neuerung in Folge der Umsetzung der DIRL betrifft den Anwendungsbereich von Verbraucherverträgen. § 312 BGB wird dahingehend geändert, dass die Anwendbarkeit der Vorschriften über Verbraucherverträge nicht mehr von der „Entgeltlichkeit“ der Leistung abhängt. Stattdessen sind die Bestimmungen auf sämtliche Verträge anwendbar, bei denen sich der Verbraucher zur „Zahlung eines Preises verpflichtet“. Dieser Preis kann nach dem neuen § 312 Abs. 1a BGB auch in der Bereitstellung oder der Verpflichtung zur Bereitstellung personenbezogener Daten bestehen. Eine Ausnahme gilt, wenn der Unternehmer diese Daten ausschließlich verarbeitet, „um seine Leistungspflicht oder an ihn gestellte rechtliche Anforderungen zu erfüllen“. Über den Umweg des Schuldrechts erhält damit das unter Datenschützern umstrittene Modell „Daten als Gegenleistung“ Einzug in das nationale Recht. Künftig wird man daher nur noch schwer argumentieren können, dass das europäische Recht einem „Bezahlen mit Daten“ prinzipiell entgegensteht.
Verträge über digitale Produkte: Anwendungsbereich und noch ein Mangelbegriff
Statt einen eigenen Vertragstypus zu schaffen, wird in Abschnitt 3 des 2. Buchs des BGB, d.h. bei den Bestimmungen zum allgemeinen Schuldrecht, ein eigener Titel 2a „Verträge über digitale Produkte“ eingefügt. Diese Bestimmungen gelten damit für jeden Vertragstyp (z. B. Kauf- oder Mietvertrag), bei dem ein Unternehmer einem Verbraucher digitale Produkte anbietet. In den Regelungen zu den jeweiligen Vertragstypen werden entsprechende Verweisungsvorschriften untergebracht. „Digitale Produkte“ dient dabei als Oberbegriff für digitale Inhalte (z. B. Filme, Fotos, E-Books) und digitale Dienstleistungen (z. B. Apps, Cloud-Speicher, Streaming-Dienste). Ausgenommen von der Anwendung werden jedoch einige abschließend aufgezählte Verträge, z.B. Verträge über „andere Dienstleistungen“, und zwar unabhängig davon, ob der Unternehmer zur Erfüllung seiner Pflichten digitale Mittel oder Formen einsetzt (§ 327 Abs. 6 Nr. 1 BGB), Verträge über elektronische Kommunikationsdienste (§ 327 Abs. 6 Nr. 2 BGB), Verträge über Finanzdienstleistungen (§ 327 Abs. 6 Nr. 5 BGB-E) und in bestimmten Konstellationen Verträge über die Bereitstellung von Software im Rahmen von „freien und quelloffenen Lizenzen“ (§ 327 Abs. 6 Nr. 6 BGB).
In den neu einzufügenden Normen werden sowohl die Leistungspflichten der Unternehmer zur Bereitstellung der digitalen Produkte als auch die den Verbrauchern zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe konkretisiert. Dabei wird in § 327e BGB ein eigener Begriff des Produktmangels definiert. Das digitale Produkt muss den subjektiven und objektiven Anforderungen und den Anforderungen an die Integration („die Verbindung und die Einbindung eines digitalen Produkts mit den oder in die Komponenten der digitalen Umgebung (Hardware, Software oder Netzverbindungen) des Verbrauchers“) entsprechen. Die Anforderungen an die Integration stellen also das Spiegelbild zur ordnungsgemäßen Installation beim Verbrauchsgüterkauf dar.
Zusätzlich werden in Umsetzung der DIRL die Bestimmungen zum Verbrauchsgüterkaufvertrag angepasst. Hier wird die Anwendbarkeit der Sonderbestimmungen auf digitale Produkte in einem neu einzufügenden § 475a BGB geregelt. Schließlich werden auch bei weiteren Vertragstypen entsprechende Anpassungen vorgenommen (Schenkung, § 516a BGB; Miete, § 548a BGB, § 578b BGB, § 580a Abs. 3 BGB und Werklieferungsvertrag, § 650 BGB).
Ergebnis: Updatepflicht, Mangeltrias und Informationspflichten
Künftig werden bei Verträgen in digitalem Kontext also drei ähnliche, aber voneinander zu unterscheidende Mangelbegriffe zu berücksichtigen sein:
- für Verbrauchsgüterkaufverträge über Sachen mit digitalen Elementen gibt es künftig einen eigenen Mangelbegriff, der auch Anforderungen an Updates und die Installation enthält;
- auch für Verbraucherverträge über digitale Produkte wird ein neuer Begriff des Produktmangels eingeführt, der insbesondere die Integration des digitalen Produkts in eine Soft- bzw. Hardwareumgebung berücksichtigt und
- für alle übrigen Kaufverträge wird der Mangelbegriff aus § 434 BGB neu formuliert.
Sowohl die Regelungen zu Verbrauchsgüterkaufverträgen über Sachen mit digitalen Elementen als auch Verbraucherverträge über digitale Produkte statuieren dabei eine grundsätzliche Pflicht des Unternehmers zu Aktualisierungen (Updates).
Während diese Pflicht bei Verträgen über digitale Produkte „während des (gesamten) maßgeblichen Zeitraums“ besteht (§ 327f Abs. 1 BGB), soll hinsichtlich der Verbrauchsgüterkaufverträge über Sachen mit digitalen Inhalten danach differenziert werden, ob das digitale Element dauerhaft bereitgestellt werden soll (dann ebenfalls Pflicht zur Aktualisierung während des gesamten maßgeblichen Zeitraums, § 475 c Abs. 3 BGB)) oder nicht (dann nur Aktualisierungspflicht, wenn dies vertraglich vereinbart wurde oder der Verbraucher dies nach „Art und Zweck der Sache und ihrer digitalen Elemente sowie unter Berücksichtigung der Umstände und der Art des Vertrages erwarten kann“, § 475b Abs. 2, Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 2 BGB).
Sowohl bei Verbrauchsgüterkaufverträgen über Sachen mit digitalen Elementen als auch bei Verbraucherverträgen über digitale Produkte sind abweichende Vereinbarungen nur unter besonderen Umständen möglich (§ 327h BGB; § 476 BGB).
Auch ist eine erweiterte Beweislastumkehr vorgesehen: Wenn der Mangel sich innerhalb eines Jahres zeigt, wird vermutet, dass dieser bereits bei Gefahrübergang vorlag (§327k BGB; § 477 BGB). Die bereits aus § 476 BGB bekannte Beweislastumkehr wird also nicht nur übernommen, sondern in ihrer Anwendung auf ein Jahr verlängert.
Auch die aus § 445a i.V.m. § 478 Abs. 3 BGB bekannte Möglichkeit des Verkäufers, den vom Verbraucher geltend gemachten Mangel an seinen Lieferanten „durchzureichen“ bleibt erhalten. Er kann von seinem Lieferanten Ersatz der Kosten verlangen, die ihm wegen eines von vornherein bestehenden Mangels im Verhältnis zum Verbraucher erwachsen. Eine vergleichbare Regelung sieht § 327u BGB für Aufwendungen des Unternehmers gegen seinen Vertriebspartner vor. Mittelbar ist daher auch der B2B-Bereich betroffen.
Gerade, aber nicht nur im Zusammenhang mit der Update-Pflicht, werden darüber hinaus Informationspflichten des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher normiert. So muss er den Verbraucher informieren
- über die erfolgte Bereitstellung einer Aktualisierung (§ 327f BGB);
- wenn bei abweichenden Vereinbarungen im Sinne des § 327h BGB ein Merkmal von den objektiven Anforderungen abweicht;
- über technische Anforderungen und Mitwirkungshandlungen des Verbrauchers, um die Beweislastumkehr zu Gunsten des Verbrauchers einzuschränken (§ 327k BGB);
- bei einer Rückabwicklung eines Vertrages über die Herausgabe von im Rahmen der Nutzung erstellter Inhalte, die nicht personenbezogene Daten darstellen (§ 327p Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 S.1 und 2 Nr. 4 BGB);
- über Nutzungsbeeinträchtigungen infolge einer Änderung am digitalen Produkt (§ 327r Abs. 2 BGB).
Ausblick:
Insgesamt stehen damit die wohl erheblichsten Überarbeitungen des allgemeinen und besonderen Schuldrechts seit Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Rahmen der großen Schuldrechtsmodernisierung 2002 an.
Hierbei dürften sich spannende Fragen auftun, etwa:
Wie hält man es mit der Rückabwicklung von Verträgen, bei denen die Verbraucher mit Daten „bezahlen“?
Welchen Umfang hat die Update-Pflicht, also für welchen Zeitraum und in welchen Abständen dürfen die Verbraucher Aktualisierungen „erwarten“ (§ 327f BGB)?
Damit zusammenhängend: Wann beginnt die – vom Ende des Zeitraums der Aktualisierungspflicht abhängige – Verjährung bei dauerhaft bereitgestellten digitalen Produkten (§ 327j BGB)?