Umsetzung der EU-VERBANDSKLAGEN-RICHTLINIE: Konkurrierende Konzepte von Unternehmensverbänden und Verbraucherzentrale
Die Verbandsklagen, die das deutsche Recht heute ermöglicht, können nur auf Unterlassen (Klagen nach dem UKlaG) und auf Feststellung (KapMuG-Verfahren und Musterfeststellungsklagen nach §§ 606 ff. ZPO) gerichtet sein. Auf tatsächliche Abhilfe gerichtete Klagen werden erstmals aufgrund der Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 25. November 2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (VK-RL, hier abrufbar) in das deutsche Recht einzuführen sein. Die Richtlinie lässt dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzung großen Freiraum. Es überrascht daher nicht, dass die Umsetzungskonzepte der Verbraucher- und Unternehmensseite (hier bzw. dort abrufbar) deutliche Unterschiede aufweisen. Konzeptionelle Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch.
1. Überblick über die (lückenhaften) Vorgaben der Richtlinie
Anwendungsbereich
Der Anwendungsbereich der VK-RL beschränkt sich auf Verstöße gegen die in Anhang I der Richtlinie enumerativ aufgezählten europäischen Rechtsakte (einschließlich ihrer Umsetzung in nationales Recht) im „b2c“-Bereich (vgl. Art. 2 VK-RL). Eine „überschießende“ Umsetzung auch zugunsten von Unternehmern und/oder auch für andere als die vorgegebenen Rechtsakte ist aber möglich.
Internationale Aspekte
Die VK-RL erfasst sowohl nationale als auch grenzüberschreitende Verstöße und Klagen. Sie macht für grenzüberschreitende Klagen aber etwas engere Vorgaben insbesondere mit Blick auf die Anforderungen an die Klagebefugnis sowie auf die Anforderungen an das Verbrauchermandat. Ob eine Verbandsklage grenzüberschreitend i.S.d. Richtlinie ist, macht diese ausschließlich daran fest, ob die qualifizierte Einrichtung in einem anderen Staat als dem ihrer Eintragung klagt (vgl. Art. 3 Nr. 6/7 VK-RL). Im Übrigen bleiben sowohl das IPR als auch das IZPR (insbesondere also die EuGVVO) unberührt (vgl. Art. 2 Abs. 3 VK-RL).
Anforderung an die qualifizierte Einrichtung („Klagebefugnis“)
Ähnlich wie bei der Musterfeststellungsklage (vgl. § 606 Abs. 1 Satz 2-4 ZPO), sieht die VK-RL die Klagebefugnis als wichtigsten Ansatzpunkt zur Vermeidung von Missbrauch. Sie enthält hierzu entsprechend detaillierte Vorgaben (vgl. Artt. 4 ff. VK-RL). Während diese für grenzüberschreitende Verbandsklagen zwingend (und ähnlich zu den Regelungen zur Musterfeststellungsklage in § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO) ausgestaltet sind (vgl. Art. 4 Abs. 3 VK-RL), räumt die Richtlinie bei innerstaatlichen Verbandsklagen erheblichen Umsetzungsspielraum ein (Art. 4 Abs. 4 ff. VK-RL).
Unterlassungs- und Abhilfeklagen
Die VK-RL verlangt, dass Verbandsklagen nicht nur auf Unterlassung, sondern auch unmittelbar auf Leistung an den einzelnen Verbraucher gerichtet sein können (Art. 7 Abs. 4, Artt. 8 f. VK-RL). Das mit erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten behaftete Novum sind dabei die Abhilfeklagen, weil der Umsetzungsgesetzgeber hier aufgefordert ist, dafür zu sorgen, dass der einzelne Verbraucher zu seiner „Abhilfe“ kommt, ohne dafür klagen zu müssen (Art. 9 Abs. 6 VK-RL). Hierzu sollen in der Abhilfeentscheidung entweder die einzelnen Verbraucher, die einen Anspruch auf Abhilfeleistung haben, aufgeführt werden oder zumindest die Gruppe von Verbrauchern festgelegt werden, die einen entsprechenden Anspruch hat (Art. 9 Abs. 5 VK-RL).
„Mandat“ der Verbraucherinnen und Verbraucher („Opt-in“ oder „Opt-out“)
Für Unterlassungsklagen verlangt die VK-RL ausdrücklich, dass diese auch ohne ein „Mandat“ der Verbraucher möglich sein müssen (Art. 8 Abs. 3 Satz 1 VK-RL). Anders ist dies bei Abhilfeklagen (Art. 9 Abs. 2 f.). Dort ist ein „Mandat“ der Verbraucher erforderlich, das ausländische Verbraucher nur in Form eines ausdrücklichen „Opt-in“ erteilen können (Art. 9 Abs. 3 VK-RL), während die VK-RL es für inländische Verbraucher dem Umsetzungsgesetzgeber freistellt, ob er eine „Opt-in“- oder eine „Opt-out“-Lösung wählt (vgl. Art. 9 Abs. 2 VK-RL). Vorgaben dafür, wann das „Opt-in“ oder „Opt-out“ stattfinden muss, gibt es nicht.
Hemmung/Unterbrechung der Verjährung
Nach Art. 16 Abs. 1 VK-RL müssen Unterlassungsklagen und nach Maßgabe von Art. 16 Abs. 2 VK-RL auch Abhilfeklagen eine Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung der Ansprüche betreffender Verbraucher bewirken.
Vergleiche
Vergleiche unterliegen der Prüfung und Bestätigung durch das Gericht (Art. 11 Abs. 2 VK-RL). Die Bestätigung ist abzulehnen, wenn der Vergleich zu Bestimmungen des nationalen Rechts im Widerspruch steht oder nicht vollstreckbar wäre. Das nationale Recht kann ferner vorsehen, dass die Bestätigung eines Vergleichs, der „unfair“ ist, abzulehnen ist (Art. 11 Abs. 2 VK-RL). Es kann ferner bestimmen, dass teilnehmende Verbraucher einen Vergleich annehmen oder ablehnen können.
2. Umsetzungsvorschläge: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Sowohl der vzbv als auch die Unternehmensverbände bringen sich mit detailliert ausgearbeiteten und begründeten Umsetzungsvorschlägen in die Diskussion ein.
vzbv-Konzept
Das Konzept des vzbv sieht ein zweistufiges Modell auf Grundlage eines über den zwingenden engen Rahmen der Richtlinie hinausgehenden weiten Anwendungsbereiches vor:
- In der ersten Stufe klagt ein Verbraucherverband gegen das Unternehmen. Diese Klage bewirkt die Hemmung der Verjährung zugunsten aller betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine Anmeldung zu einem Klageregister braucht es hierfür auch bei einer Abhilfeklage nicht. Einzelne Verbraucherinnen und Verbraucher sind an der ersten Stufe weder direkt noch indirekt beteiligt. Im Urteil bzw. Vergleich sollen die Voraussetzungen für die Leistungen an die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher festgelegt werden und wie diese zu berechnen und nachzuweisen sind.
- Soweit das Unternehmen verurteilt wird (oder bei einem entsprechenden Vergleich) schließt sich auf der zweiten Stufe (ohne Beteiligung des Verbraucherverbands) ein „Verteilungsverfahren“ an. Betroffene Verbraucherinnen und Verbraucher melden sich zu einem Klageregister an, und ein Treuhänder prüft die Forderungen und veranlasst dann die im Urteil bzw. Vergleich bestimmte Leistung an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Sowohl die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher als auch das Unternehmen können gegen die Entscheidung des Treuhänders individuell klagen; akzeptieren beide Seiten die Entscheidung, erhalten die Verbraucherinnen und Verbraucher einen entsprechenden Vollstreckungstitel.
Konzept der Unternehmensverbände
Das Konzept der Unternehmensverbände spricht sich für einen (jedenfalls zunächst) engen Anwendungsbereich – und mithin insoweit gegen eine „überschießende“ Umsetzung – aus. Auch das von Unternehmensseite vorgeschlagene Modell ist im Übrigen zweistufig konzipiert:
- In der ersten Stufe klagt der Verbraucherverband gegen das Unternehmen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen sich bis zu einem bestimmten (relativ frühen) Zeitpunkt während der laufenden Klage anmelden („Opt-in“); sie können (anders als nach dem Konzept des vzbv) für die Entscheidung über ihre Anmeldung also nicht das Abhilfeurteil abwarten. Erst durch die Anmeldung profitieren die Verbraucherinnen und Verbraucher dann auch von der Verjährungshemmung.
- Das Urteil enthält eine Abhilfesumme, die einen Abhilfefonds speist, aus dem alle Ansprüche der angemeldeten Verbraucherinnen und Verbraucher dann befriedigt werden. Für den Unternehmer hat die Errichtung des Abhilfefonds (gegenüber den angemeldeten Verbraucherinnen und Verbrauchern) schuldbefreiende Wirkung. Aus dem Abhilfeurteil können die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher (anders als nach dem Konzept des vzbv) keine Zwangsvollstreckung betreiben. Zur zwangsweisen Durchsetzung des Abhilfeurteils – das heißt nach dem Unternehmerkonzept letztlich: des Anspruchs auf Errichtung des Abhilfefonds – ist allein der klagende Verband berechtigt. Die vorgeschlagene Regelung für die Verteilung aus dem Abhilfefonds lehnt sich an die Regelungen der schifffahrtsrechtlichen Verteilungsordnung an. Das Verteilungsverfahren wird beim Amtsgericht geführt und erinnert etwas an das Feststellungsverfahren nach der InsO (z.B. Tabellenanmeldung, Widerspruchsrechte).
Gemeinsamkeit Opt-in, erhebliche Unterschiede aber im Opt-in-Zeitpunkt
Von der für den inländischen Bereich bestehenden Möglichkeit, Verbraucherinnen und Verbraucher automatisch so lange an einer Verbandsklage zu beteiligen, bis sie aktiv aus dem Verfahren aussteigen („Opt-out“), macht keines der Konzepte Gebrauch. Beide Vorschläge votieren in Bezug auf das Verbrauchermandat bei Abhilfeklagen für eine „Opt-in“-Lösung (und zwar sowohl für grenzüberschreitende als auch für inländische Verbandsklagen). Erhebliche Unterschiede ergeben sich aber beim Zeitpunkt dieses „Opt-in“: Während das vom vzbv beauftragte Gutachten für ein möglichst spätes „Opt-in“ (nämlich erst nach Erlass der Entscheidung über die Abhilfeklage durch das Gericht) plädiert, befürwortet die Unternehmerseite ein frühes „Opt-in“, damit Klarheit über die von der Entscheidung betroffenen (und an sie gebundenen) Verbraucher herrscht. Die konkurrierenden Verbraucher:innen- bzw. Unternehmerinteressen liegen hier offen zutage.
Gemeinsames Votum für eine zweistufige Umsetzung und für Änderungen bis ins materielle Recht hinein
Bemerkenswert ist, dass beide Umsetzungsvorschläge für die Abhilfeklage ein zweistufiges Modell favorisieren. Einigkeit herrscht also nicht nur darüber, dass ein Mechanismus notwendig ist, der es erlaubt, den Inhalt der Abhilfeentscheidung auf die einzelne Verbraucherin bzw. den einzelnen Verbraucher herunterzubrechen, sondern auch darüber, dass damit das eigentliche gerichtliche Abhilfeklage-Verfahren nicht belastet werden soll. Das ist nicht ganz selbstverständlich, denn jedenfalls in kleineren Verbandsklagen wäre ja durchaus denkbar, dass das „Abhilfegericht“, das sich zumindest „verbraucherübergreifend“ ohnehin mit der Schadensfrage befassen muss, auch die Aufgabe übernimmt, die Abhilfe auf die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher zu verteilen. Eine zweistufige Ausgestaltung erscheint aber zumindest ab einer gewissen Größenordnung schon aus Effizienzgründen naheliegend. Sie entspricht auch vergleichbaren Konzepten anderer Rechtsordnungen.
Auch sind beide Umsetzungsvorschläge – in im Einzelnen allerdings erheblich unterschiedlichem Ausmaß – grundsätzlich offen für bis ins materielle Recht hineinreichende Gesetzesänderungen. Auch das ist nicht selbstverständlich, erfordert die Richtlinie ja grundsätzlich nur die Bereitstellung eines prozessualen „Tools“. Das Ziel, den einzelnen Verbraucherinnen und Verbrauchern unmittelbar Abhilfe zu gewähren, dürfte aber kaum ganz ohne Eingriff ins materielle Recht zu erreichen sein. Im Konzept der Unternehmensverbände besteht der gewichtigste Eingriff darin, dass dem Verbraucherverband ein neuartiger eigener Anspruch gegen das verklagte Unternehmen auf Errichtung eines Abhilfefonds gewährt wird. Das vzbv-Konzept geht hingegen weit darüber hinaus und spricht sich für Änderungen z.B. auch bei der Schadensermittlung und Schadensberechnung aus.
Erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung des jeweiligen zweistufigen Konzepts
In der konkreten Ausgestaltung ihrer jeweiligen „Zweistufensysteme“ gehen die Vorschläge hingegen deutlich auseinander, was hier natürlich nicht abschließend behandelt, sondern nur exemplarisch angerissen werden kann.
Ins Auge springend, letztlich aber gar nicht so entscheidend, ist, dass die Verteilung der Abhilfe auf die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher im Konzept des vzbv einem Treuhänder obliegt, wohingegen das Verfahren nach dem Konzept der Unternehmensverbände beim Amtsgericht angesiedelt ist. Nur nach dem Konzept der Unternehmensverbände erfolgt die Verteilung an die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher damit justizförmig. Im vzbv-Konzept kommen Gerichte bei der Verteilung erst dann ins Spiel, wenn es zu einem (eigentlich ja nicht erwünschten) Folgeprozess kommt.
Ebenfalls – jedenfalls dogmatisch – auffällig und hervorstechend ist, dass nach dem Konzept des vzbv der klagende Verband (indes: zunächst einmal ohne ein „Mandat“ der Verbraucherinnen und Verbraucher) die materiell-rechtlichen Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher in gesetzlicher Prozessstandschaft geltend macht, wohingegen das Konzept der Unternehmensseite sich de lege ferenda für die Einführung eines eigenen materiell-rechtlichen Anspruchs des klagenden Verbandes auf Abhilfe ausspricht (der Verband macht in diesem Modell also einen eigenen Anspruch geltend).
Der wohl wichtigste konzeptionelle Unterschied liegt aber wohl darin, dass das Volumen des Abhilfefonds nach dem Unternehmermodell mit dem Abhilfeurteil fest steht und damit die Haftung des Unternehmens gegenüber den angemeldeten Verbraucherinnen und Verbrauchern abschließend gedeckelt ist. Nach dem Konzept des vzbv ergibt sich das ökonomische Volumen des Abhilfeurteils hingegen erst im Anschluss an dessen Erlass aus den „Opt-in“-Entscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Welche Wünsche und Forderungen die einzelnen Interessengruppen an den Umsetzungsgeber haben, wird am Mittwoch, den 4. Mai 2022, ab 10.00 h online in unserem lindenpartners law lab diskutiert. Jutta Gurkmann, seit 1. März 2022 neue Vorständin des vzbv, wird für das vzbv-Modell werben. Die Sicht der Unternehmensverbände stellt Karen Bartel vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft vor. Die Anregungen der Richterschaft wird Jens Rathmann, Mitglied des “KapMuG-Senats” des OLG Frankfurt vorbringen. Zur Anmeldung (kostenlos) geht es hier.