Sein oder Schein? Ökologische und soziale Nachhaltigkeit im neuen DCGK 2022

Der neue Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) verspricht Nachhaltigkeit. Doch hält er, was er verspricht?
Dr. Bastian Brunk
Mittwoch, der 22. Juni 2022

Am 17. Mai 2022 hat die Regierungskommission den neuen Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) veröffentlicht. Mit seiner baldigen Bekanntmachung im Bundesanzeiger ist zu rechnen, sodass sich betroffene Aktiengesellschaften wohl spätestens ab Herbst im Rahmen ihrer Entsprechenserklärung nach § 161 Abs. 1 AktG zu den Empfehlungen des neuen Kodex erklären müssen. Grund genug, sich bereits heute mit den wesentlichen Änderungen auseinanderzusetzen.

Die Kodexreform greift vor allem zwei jüngere Entwicklungen auf:

  • Erstens setzt der neue Kodex die Änderungen der aktienrechtlichen Corporate Governance durch das FISG und das FüPoG II um. Dabei zielt das FISG vor allem auf eine Stärkung der Steuerung und Überwachung in der börsennotierten Gesellschaft, indem es einerseits den Vorstand zur Einrichtung eines internen Kontrollsystems (IKS) und Risikomanagementsystems (RMS) verpflichtet und andererseits im Aufsichtsrat die Einrichtung eines Prüfungsausschusses verlangt, in dem Sachverstand auf den Gebieten der Rechnungslegung und der Abschlussprüfung vertreten sein müssen. Durch das FüPoG II sind bei der Besetzung des Vorstands mitbestimmter, börsennotierter Aktiengesellschaften nunmehr Mindestbeteiligungsquoten für Frauen und Männer zu beachten; zudem hat der Aufsichtsrat Zielgrößen für eine geschlechtergerechte Besetzung von Aufsichtsrat und Vorstand festzulegen.
  • Zweitens – und damit sind wir im Thema dieses Beitrags – soll durch die Kodexreform die ökologische und soziale Nachhaltigkeit Einzug in die Unternehmensführung börsennotierter Aktiengesellschaften halten. Der Kodex will den Aspekt der „Governance“ stärker auf die anderen beiden Aspekte von ESG – „Environment“ und „Social“ – ausrichten, indem Umwelt- und Sozialfaktoren bei der Leitung und Überwachung des Unternehmens vermehrt berücksichtigt werden.

Langsam, langsamer, Kodexkommission? Der lange Weg zur Nachhaltigkeit

Spät dran, so könnte man meinen. Schließlich dürften sich die meisten – wenn nicht alle – der vom Kodex betroffenen börsennotierten Gesellschaften bereits seit Jahren mit Nachhaltigkeitsaspekten beschäftigen. Immerhin bestehen mit den OECD-Leitsätzen für Multinationale Unternehmen schon seit den 1970er Jahren weiche Standards (sog. „Soft Law“) für ein integres Wirtschaften. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verlangen seit über zehn Jahren eine Berücksichtigung der nachteiligen Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf die Menschenrechte im Compliance- und Risikomanagement und sie dürften sich mittlerweile als weltweit anerkannter Verhaltensstandard durchgesetzt haben. Ab dem kommenden Jahr gelten insoweit für große Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern in Deutschland auch die gesetzlichen Sorgfaltspflichten des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG). Schließlich klopfen auf europäischer Ebene mit den Entwürfen zur Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) schon die nächsten Verschärfungen in puncto Nachhaltigkeitsregulierung an die Tür. Mit Blick auf diese Entwicklungen sieht sich die Kodexkommission mit der deutlichen Kritik konfrontiert, Gesetz- und Richtliniengeber hinterherzulaufen, statt eigene Impulse für die Weiterentwicklung der Corporate Governance zu setzen.

Der Vorwurf, die Kodexkommission habe den Trend zur Nachhaltigkeit verschlafen, würde der bisherigen Entwicklung aber nicht wirklich gerecht. Immerhin ist im Kodex schon seit einigen Jahren ein pluralistisches Unternehmensinteresse verwirklicht, dass Vorstand und Aufsichtsrat zur Berücksichtigung nicht nur des Gewinninteresses der Aktionäre (Shareholder), sondern auch der Belange sonstiger Stakeholder wie den Mitarbeiter*innen und anderen mit dem Unternehmen verbundenen Gruppen verpflichtet. Hinzu kommt der Appell an ein „ethisch fundiertes Verhalten“ nach dem „Leitbild des ehrbaren Kaufmanns“. Darüber hinaus erkennt der Kodex in seiner aktuellen Fassung (2020) an, dass Sozial- und Umweltfaktoren den Unternehmenserfolg beeinflussen, und ruft Vorstand und Aufsichtsrat auf, potenziellen Auswirkungen dieser Faktoren auf die Unternehmensstrategie und operative Entscheidungen im Interesse des Unternehmens zu erkennen und zu adressieren. Schließlich greift der Kodex – wenn auch nur sehr vorsichtig – in Grundsatz 23 und den dazugehörigen Empfehlungen die jüngste Aktienrechtsreform zur Vorstandsvergütung durch das ARUG II auf. Danach sind bei der Festlegung der Vorstandsvergütung nunmehr auch Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG), was u.a. durch die Festlegung nichtfinanzieller Leistungsindikatoren im Vergütungssystem sichergestellt werden soll (§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG).

DCGK 2022: Nachhaltigkeit nimmt Gestalt an

Die jetzige Kodexreform lässt diesen Entwicklungsstand deutlich hinter sich, indem sie einerseits ein neues, umfassenderes Nachhaltigkeitsverständnis anlegt und andererseits für eine stärkere Verknüpfung von Nachhaltigkeits- mit Governance-Themen sorgt. Diese Reformen lassen sich in drei Kategorien unterteilen:

  • Erstens ändert sich das Nachhaltigkeitsverständnis als solches. Bisher reichte es für Vorstand und Aufsichtsrat aus, diejenigen Nachhaltigkeitsaspekte zu adressieren, die sich auf die Unternehmenstätigkeit und damit auf den Unternehmenserfolg auswirken (Outside-In-Perspektive). Damit wurde Nachhaltigkeit letztlich auf eine reine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung reduziert. Der neue Kodex verlangt nach einem Perspektivwechsel, indem nunmehr auch die Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit für Mensch und Umwelt zu berücksichtigen sind (Inside-Out-Perspektive). Dies hat Folgen u.a. für das Risikomanagement, weil zukünftig auch diese Inside-Out-Perspektive einzubeziehen ist. Im Übrigen löst sich der neue Kodex von seiner reinen Risikobetrachtung und erkennt an, dass mit Sozial- und Umweltfaktoren auch Chancen für das Unternehmen verbunden sein können.
  • Zweitens betont der Kodex nunmehr ausdrücklich, dass das Nachhaltigkeitsmanagement eine Leitungsaufgabe des Vorstands ist. Dafür wird der Vorstand in Empfehlung A.1 angehalten, die mit den Sozial- und Umweltfaktoren verbundenen Risiken – und Chancen – für das Unternehmen sowie die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit systematisch zu identifizieren und zu bewerten. Nachhaltigkeitsziele sollen im Rahmen der Unternehmensstrategie und -planung berücksichtigt werden. Zum anderen werden in der neuen Empfehlung A.3 die – erst durch das FISG im Sinne einer echten Rechtspflicht in § 91 Abs. 3 AktG ausgestalteten – Management- und Kontrollsysteme auf Nachhaltigkeitsbelange ausgerichtet.
  • Drittens wird eine stärkere Kompetenz des Aufsichtsrats in Nachhaltigkeitsfragen verlangt. Zunächst stellt der Kodex in Grundsatz 6 klar, dass der Aufsichtsrat insbesondere auch Nachhaltigkeitsthemen bei der Überwachung und Beratung zu berücksichtigen hat. Nach Empfehlung C.1 soll das Kompetenzprofil des Aufsichtsrats daher Expertise zu Nachhaltigkeitsfragen umfassen und dies im Rahmen einer Qualifikationsmatrix in der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f HGB) offengelegt werden. Daneben verlangt der Kodex in Empfehlung D.3, dass im Prüfungsausschuss Sachverstand auf dem Gebiet der Nachhaltigkeitsberichterstattung und -prüfung vertreten ist.

Reform oder Reförmchen?

Perspektivwechsel, Nachhaltigkeit (auch) als Chance für Unternehmen und die Einbindung von Nachhaltigkeitsbelangen in Management- und Kontrollsysteme – in der Gesamtschau sind die nachhaltigkeitsbezogenen Änderungen der Kodexreform zu begrüßen. Dadurch verschiebt sich die Ausrichtung der Unternehmensführung in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsbelangen, wenngleich das Unternehmensinteresse weiterhin die oberste Richtschnur für das Handeln von Vorstand und Aufsichtsrat bleibt. Die Kritik, die Regierungskommission gehe nicht über den derzeitigen bzw. – mit Blick auf die CSRD und CSDDD – sich abzeichnenden Regulierungsstand hinaus, ist damit zwar nicht von der Hand zu weisen. Sie ist aber aus zwei Gründen zu relativieren.

Erstens dient der Kodex in erster Linie als Referenz für gute Corporate Governance, nicht für den Gesamtkomplex „ESG“. Es ist daher nicht die Aufgabe des Kodex, Standards im Bereich der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit zu setzen, sondern bestehende Standards in Governance-Themen zu übersetzen und zu operationalisieren. Insoweit sind die Änderungen gelungen, denn der Kodex beschränkt sich darauf, Nachhaltigkeit als Leitungs- und Überwachungsaufgabe zu definieren und für die Beachtung von Nachhaltigkeitsbelangen in Management- und Kontrollsystemen zu sorgen. Das im Kodex verwirklichte Nachhaltigkeitsverständnis ist dabei wertungsoffen, insoweit es eine Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsstandards zulässt. Die Begründung der Regierungskommission bezieht sich sogar ausdrücklich auf die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDG), die zur Konkretisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs herangezogen werden können. Zugleich gibt der Kodex aber als Mindeststandard vor, dass Nachhaltigkeit ganzheitlich zu verstehen ist und insbesondere auch die Inside-Out-Perspektive umfasst, d.h. die von der Unternehmenstätigkeit ausgehenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.

Zweitens wird durch die gewählte Regelungstechnik einer Überfrachtung des Kodex entgegengewirkt. Statt kleinteilige Vorgaben für das Nachhaltigkeitsmanagement zu aufzustellen, gibt der Kodex nur den groben Rahmen vor und überlässt die Umsetzung den Unternehmen. Damit widersteht die Regierungskommission der Versuchung, die mit der letzten Kodexreform 2019/2020 erreichte Entschlackung wieder umzukehren. Diese Regelungstechnik bedeutet aber nicht, dass Nachhaltigkeit im Kodex mehr Schein als Sein ist. Vielmehr dürfte die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in den Management- und Kontrollsystemen (insb. IKS und RMS) dazu führen, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat diesen Aspekten bei der Leitung und Überwachung der Gesellschaft auch umfassend annehmen. Insoweit gilt die altbekannte Managementweisheit, die sich John G. Ruggie schon bei der Entwicklung der UN-Leitprinzipien zunutze gemacht hat: „What gets measured, gets managed.“ Wenn nachhaltigkeitsbezogene Chancen und Risiken systematisch identifiziert und bewertet werden (Empfehlung A.1), finden sie automatisch Einzug in die Unternehmensstrategie und -planung.

Ein bisschen mehr Guidance hätte man sich gleichwohl gewünscht. Über das Mittel der Anregung hätte der Kodex etwa einzelne Nachhaltigkeitsziele aufgreifen können, z.B. das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen, oder zur Konkretisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs zumindest auf einzelne Standards und Rahmenwerke verweisen können. Darüber hinaus hätte es nahegelegen, auch im Bereich der Vorstandsvergütung den Aspekt der Nachhaltigkeit noch stärker zu betonen – dort bleibt es bei der allgemein gehaltenen Empfehlung G.1, im Vergütungssystem festzulegen, welche nichtfinanziellen Leistungskriterien für die Gewährung variabler Vergütungsbestandteile maßgeblich sind. Außen vor bleibt schließlich die Hauptversammlung, obwohl internationale Initiativen eine stärkere Beteiligung der Aktionäre bei Nachhaltigkeitsthemen fordern. Beispielsweise verweist die VGR in ihrer Stellungnahme im Konsultationsverfahren auf die Initiative „Say on Climate“, die der Hauptversammlung Mitspracherechte in Klimafragen einräumen möchte. Es bleibt also noch Luft nach oben – ein bloßes Reförmchen ist die Kodexreform deshalb aber nicht.

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