Gesetz und Aufsichtspraxis – Die Äquvalenzprüfung in BT 7.9 MaComp
Gesetz und Aufsichtspraxis
Wie wird das Aufsichtsrecht von Aufsichtsbehörden ausgelegt? Wie überführen die Behörden gesetzliche Bestimmungen in ihre Verwaltungspraxis? Schöpfen sie dabei den vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen aus, beachten sie dessen Grenzen? Die Beiträge in der Reihe „Gesetz und Aufsichtspraxis“ wollen diesen Fragen nachgehen. Sie tun dies jeweils in Bezug auf ein konkretes Thema. Der folgende Beitrag befasst sich mit der „Äquivalenzprüfung“, die von der BaFin in BT 7.9 MaComp gefordert wird.
Die Äquivalenzprüfung in BT 7.9 MaComp
In BT 7.9 MaComp[1] legt die BaFin dar, wie sie Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565[2] auslegt. Kredit- und Wertpapierinstitute müssen nach Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565 „Strategien und Verfahren anwenden und demonstrieren können, um sicherzustellen, dass sie in der Lage sind, die Art und Merkmale, wie Kosten und Risiken, der von ihnen für ihre Kunden ausgewählten und beurteilten Wertpapierdienstleistungen und Finanzinstrumente, einschließlich jeglicher Nachhaltigkeitsfaktoren, nachzuvollziehen und unter Berücksichtigung von Kosten und Komplexität beurteilen, ob äquivalente Wertpapierdienstleistungen bzw. Finanzinstrumente dem Profil ihres Kunden gerecht werden können.“
Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565 ist wahrlich kein Beispiel für ein gut formuliertes Gesetz. Man tut sich auch nach mehrmaligem Lesen schwer, die dort niedergelegten Pflichten auch nur zu benennen. Nach dem Verständnis der BaFin soll der mehr als 60 Wörter umfassende Satz vor allem die folgenden Pflichten beinhalten:
(1) Es muss ein Verfahren etabliert sein, mit dem geeignete alternative Anlagemöglichkeiten geprüft werden.
(2) Es ist ein Prozess notwendig, der Dienstleistung, Geschäftsmodell und Art der Produkte berücksichtigt, um zu erkennen, welche Produkte äquivalent sind.
(3) Es ist ein Vergleich von Kosten und Komplexität der äquivalenten Produkte notwendig.
(4) Es ist zu dokumentieren, wenn ein kostspieligeres oder komplexeres Produkt empfohlen (Anlageberatung) oder erworben (Finanzportfolioverwaltung) wird.
Die BaFin löst sich mit dieser Auslegung in einer Hinsicht von der gesetzlichen Regelung. Gefordert werden dort „Strategien und Verfahren“, um „Art und Merkmale, wie Kosten und Risiken […] nachzuvollziehen“ und dann „unter Berücksichtigung von Kosten und Komplexität […] zu beurteilen, ob äquivalente“ Produkte dem Kundenprofil „gerecht werden können“. Der so beschriebene Rahmen wird von der BaFin in den ersten drei Punkten aufgegriffen und konkretisiert. Der vierte Punkt hat hingegen keinen Anknüpfungspunkt im Wortlaut von Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565.
Nirgendwo wird in Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565 gesagt, dass die Empfehlung eines kostspieligeren oder komplexeren Produkts begründet und dokumentiert werden muss. Auch in den Erwägungsgründen zur Verordnung findet sich kein Anknüpfungspunkt für eine solche Verpflichtung. Die BaFin übernimmt mit der Forderung nach einer Begründung und Dokumentation schlicht eine Festlegung der europäischen Aufsichtsbehörde ESMA.
Die ESMA hat in Rn. 87 ihrer „Leitlinien zu einigen Aspekten der MIFID II-Anforderungen an die Eignung“ (ESMA35-43.1163 DE) festgehalten: „Die Firmen sollten in der Lage sein, Situationen zu rechtfertigen, in denen kostspieligere oder komplexere Produkte anstelle eines äquivalenten Produkts gewählt werden … Die Firmen sollten diese Entscheidung dokumentieren und entsprechende Aufzeichnungen aufbewahren, da diesen Entscheidungen von den Kontrollfunktionen der Firma besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.“
ESMA unterstellt also, dass ohne die von ihr geforderte Rechtfertigung samt Dokumentation keine Compliance mit den gesetzlichen Anforderungen sicherzustellen ist. Dies wirkt schon als solches wenig überzeugend, wo doch die entsprechenden Strategien und Verfahren auf ihre Wirksamkeit überprüft werden können.
Entscheidend ist aber, dass ESMA eine Pflicht einführt (= Rechtfertigung der Entscheidung), die im Gesetz gar nicht angelegt ist. Das widerspricht den Regelungen von Dokumentationspflichten nach Art. 74 f. DelVO (EU) 2017/565 und § 83 WpHG, wonach alle Dokumentationspflichten auf einer gesetzliche Pflicht aufbauen. ESMA und BaFin haben den durch Art. 54 Abs. 9 DelVO (EU) 2017/565 gesetzten Rahmen verlassen, indem sie von Instituten verlangen, die Entscheidung für ein kostspieligeres oder komplexeres Produkt zu rechtfertigen.
Diese Bewertung gilt unabhängig davon, dass es gute Gründe für eine entsprechende Verpflichtung geben mag. Dann wäre sie aber vom Gesetzgeber und nicht von den Aufsichtsbehörden festzulegen. Es ist dennoch wenig wahrscheinlich, dass die Auslegung von ESMA und BaFin einmal einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen wird. Jedenfalls haben wohl alle Institute in Deutschland den Vorstellungen der Aufsichtsbehörden Rechnung getragen.
[1] Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten, Fassung vom 28. März 2022.
[2] Delegierte Verordnung (EU) 2017/565 der Kommission vom 25. April 2016 zur Ergänzung der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definitionen bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie.