Sustainable Corporate Governance: Nachhaltigkeit als Unternehmensinteresse?
Doch schon nach geltendem Recht müssen Unternehmen sich damit beschäftigen, welche Maßnahmen sie im Interesse der Anteilseigner zu Themen wie Klimaschutz und nachhaltigen Lieferketten ergreifen dürfen oder sogar müssen. Vorstände und Geschäftsführer müssen sich im Rahmen der Leitung des Unternehmens mit Nachhaltigkeitsthemen beschäftigen.
Sustainable Finance: Regulierte Industrien als Trendsetter
Wenn es darum geht, politische Lenkungsziele in der Wirtschaft zu verankern, sind regulierte Industrien wie der Finanzmarkt oft Vorreiter. Über Aufsichtsbehörden und sonstige regulatorische Vorgaben besteht die Möglichkeit, Maßnahmen zur Förderung ebendieser Ziele rasch zu implementieren und vor allem zu kontrollieren.
Als Paradebeispiel hierfür stehen die Vorgaben zur Begrenzung der Vergütung von Leitungsorgangen. Fehlgeleitete Vergütungssysteme gelten als einer der Auslöser der weltweiten Finanzkrise in den Jahren 2007 bis 2009. Schon im Jahr 2009 entwickelte deshalb das Financial Stability Board (FSB) Prinzipien für solide Vergütungspraktiken und darauf aufbauende konkrete Standards, die schließlich im September 2009 auf dem G20-Gipfel im US-amerikanischen Pittsburgh gebilligt wurden. In der Europäischen Union wurden durch die CRD III-Richtlinie und CRD IV-Richtlinie weitergehende Vorgaben zu Vergütungen in Kreditinstituten erlassen, die in Deutschland insbesondere durch die zuletzt im Jahr 2019 geänderte Institutsvergütungsverordnung umgesetzt wurden. Über soft law wie etwa Richtlinien der institutionellen Stimmrechtsberater (z.B. Glass Lewis und ISS) sowie Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex wurden faktisch branchenunabhängige Vorgaben für die Vergütung von Vorstandsmitgliedern sämtlicher im Regulierten Markt börsennotierten Aktiengesellschaften implementiert und mit Wirkung zum Jahr 2020 auch in § 87a des Aktiengesetzes kodifiziert.
Auch im Bereich Nachhaltigkeit ist die regulierte Finanzwirtschaft Trendsetter. Ausgangspunkt ist der im März 2018 von der Europäischen Kommission vorgestellte Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums. Mit dem Aktionsplan soll zur Umsetzung des Übereinkommens der Klimakonferenz von Paris und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ein regulatorischer Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen (Sustainable Finance) geschaffen werden. Auch auf nationaler Ebene gibt es Aktivitäten: Die Bundesregierung hat im März 2019 einen Sustainable Finance-Beirat gegründet und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat im Dezember 2019 ein Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken veröffentlicht. Das Merkblatt soll den von der BaFin beaufsichtigten Unternehmen (Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds, Kapitalverwaltungsgesellschaften und Finanzdienstleistungsinstitute) Hinweise zur Befassung mit sog. ESG-Risiken geben. ESG steht für Environmental Social Govnernance.
Es ist angesichts der gesamtwirtschaftlichen Relevanz der Klimakrise zudem gut vorstellbar, dass die Perpetuierung von ESG-Anforderungen für die Finanzwirtschaft – wie bei den Vorgaben für Vergütungssysteme – mittelfristig auf sämtliche börsennotierte Aktiengesellschaften ausgedehnt werden wird.
Konsultation der EU Kommission zu Sustainable Corporate Governance
Erste Anzeichen dafür enthält der im Dezember 2019 von der Europäischen Kommission veröffentliche Aktionsplan zum European Green New Deal. Darin kündigt die Europäische Kommission an, Nachhaltigkeit „stärker in den Corporate-Governance-Rahmen integrieren“ zu wollen. In einem ersten Schritt hat sie dazu im Oktober 2020 eine Konsultation zu Sustainable Corporate Governance gestartet. Ziel ist nicht weniger als eine europarechtliche Kodifikation des Unternehmensinteresses unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien: Die Unternehmensleitung soll nicht nur den Interessen der Anteilseigner verpflichtet sein, sondern die Interessen aller Stakeholder berücksichtigen.
Eine derartige Definition des Unternehmensinteresses wäre ein Systembruch, der in einem erheblichen Konflikt zu dem Gesellschaftsrecht zahlreicher Mitgliedstaaten stehen würde, die auf dem shareholder value-Ansatz basieren. Nicht zuletzt deshalb ist zu erwarten, dass Mitgliedstaaten bestreiten werden, dass die Europäische Union die Kompetenz für eine Normsetzung hat, die derart in das nationale Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten eingreift.
Mittelbare Wirkung der ESG-Kriterien für Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung
Doch schon nach geltendem Recht müssen sich sämtliche Unternehmen der Realwirtschaft mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen, da die ESG-Kriterien mittelbare Wirkung für die Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung haben.
Einfluss von ESG-Kriterien auf die Kreditvergabe
Banken und Kreditinstitute, die als solche unmittelbar an die ESG-Kriterien gebunden sind, berücksichtigen diese bei der Kreditvergabe. Als Teil der Kreditrisikostrategie haben Banken Richtlinien zur nachhaltigen Kreditvergabe erarbeitet. Diese Richtlinien enthalten Mindestanforderungen für eine nachhaltige Unternehmensführung und erfassen in der Regel die drei Säulen Umwelt, Soziales und Governance.
Auch die BaFin hat in einem im Dezember 2019 veröffentlichten Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken diesen Punkt herausgestellt und betont, dass der Dialog mit der Unternehmensleitung oder Einfluss auf Branchenvertretungen – unter Berücksichtigung von kartell- und gesellschaftsrechtlichen Schranken – geeignete Methoden sind, um „Kunden auf einen nachhaltigeren Kurs zu bringen.“ Die BaFin erwähnt dabei ausdrücklich, dass derartige Instrumente in der Praxis bislang vor allem im Bereich von Kapitalanlageentscheidungen verwendet werden, sich aber aus Sicht der BaFin teilweise auch auf den Kreditvergabeprozess und den Zeichnungsprozess von Versicherungsrisiken übertragen lässt.
Im Klartext bedeutetet dies: Unternehmen, welche marktübliche ESG-Kriterien nicht erfüllen, werden zukünftig keine oder nur zu sehr unattraktiven Konditionen Kredite bei Banken erhalten.
Relevanz von ESG-Kriterien für DCM/ECM-Maßnahmen
Erhebliche Relevanz hat das Thema ESG-Compliance zudem für Investitionsentscheidungen von institutionellen Anlegern; und zwar sowohl für Debt Capital Markets (DCM)-Maßnahmen (z.B. Zeichnung von Anleihen und vergleichbaren Instrumenten) als auch für klassische Equity Capital Markets (ECM)-Transaktionen (z.B. Zeichnung von Aktien im Rahmen von Kapitalerhöhungen). Auch bei der strategischen Steuerung der Anteilseignerstruktur können ESG-Kriterien relevant sein, z.B. für die Gewinnung von strategischen (Anker-)Aktionären, die Aktien über die Börse oder außerbörslich im Paket erwerben.
Institutionelle Investoren sind oft selbst reguliert und deshalb an ESG-Vorgaben in den für sie geltenden Jurisdiktionen gebunden. Sie haben daher bei ihren Anlageentscheidungen die ESG-Compliance ihrer Portfolio-Unternehmen zu berücksichtigen. Bei der Gewinnung von Investoren wird ESG-Compliance daher zukünftig ein relevanter Faktor sein. Zudem sind institutionelle Investoren bemüht, ihrerseits Gelder von Investoren zu erhalten, die ggf. an ESG-Kriterien gebunden sind.
Stimmrechtsberatern/Proxy Advisor setzen Standards für ESG-Compliance
Schon seit vielen Jahren richten institutionelle Investoren ihre Zustimmung bzw. Ablehnung zu Hauptversammlungsbeschlüssen an Empfehlungen sog. Stimmrechtsberater/Proxy Advisor wie ISS und Glass Lewis aus. Faktisch kommt diesen Empfehlungen, die oft über das hinausgegen, was Gesetz und soft law (z.B. der Deutsche Corporate Governance Kodex) fordern, eine erhebliche Bedeutung zu. Nahezu jede börsennotierte Aktiengesellschaft mit einem relevanten free float bzw. institutioneller Aktionärsstruktur richtet Kapitalmaßnahmen und Governance-Struktur deshalb an den Empfehlungen dieser Stimmrechtsberater aus.
Auch im Bereich ESG-Compliance haben Stimmrechtsberater/Proxy Advisor bereits jetzt einen erheblichen Einfluss. Sowohl ISS als auch Glass Lewis haben anhand der bereits geltenden ESG-Vorgaben Leitlinien herausgearbeitet, anhand derer die ESG-Compliance von Unternehmen bewertet und eine ESG-Rating erstellt wird. Neben allgemeingültigen Standards werden dabei auch branchenspezifische Standards in das Rating einbezogen.
ISS berücksichtigt für ESG-Ratings die drei Säulen Umwelt (z.B. Energiemanagement, Klimastrategie, CO2-Effizienz), Soziales (z.B. Chancengleichheit, Diversity, Gesundheit und Sicherheit, Lieferkettenmanagement) und Governance (Unternehmensethik, Compliance, Unabhängigkeit des Aufsichtsrats, Vergütung, Aktionärsstruktur, Steuern).
Erste empirische Untersuchungen aus den USA verdeutlichen, wie stark US-amerikanische Unternehmen sich schon jetzt an ESG-Kriterien ausrichten (siehe z.B. 2020 Proxy Season Review veröffentlicht auf der Internetseite der Harvard Law School). Eine ähnliche Entwicklung ist in Europa zu erwarten.
Ferner werden institutionelle Anleger und Vermögensverwalter zukünftig in Bezug auf ihre Mitwirkungspolitik (§ 134b AktG) offenlegen müssen, inwieweit sie bei der Ausübung von Aktionärsrechten auf die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten beim Zielunternehmen achten werden.
Unternehmensinteresse: Interessenpluralität statt Shareholder Value
Im Einzelfall kann es für den Vorstand schwierig abgrenzbar sein, wann eine Maßnahme zum Klimaschutz geboten ist, um ihrem Unternehmen einen marktüblichen Zugang zu Fremd- und Eigenkapitalfinanzierungen zu ermöglichen und wann eine Maßnahme unnötig und im Extremfall sogar Verschleuderung von Unternehmensvermögen ist.
Wichtig ist, dass derartige Entscheidungen nicht ausschließlich am Interesse der Aktionäre gemessen werden dürfen. Das in § 76 des Aktiengesetzes normierte Leitungsermessen des Vorstands orientiert sich nicht allein am sog. shareholder value. Für die Ausübung dieses Leitungsermessens ist nach überwiegender Auffassung eine interessenplurale Zielkonzeption maßgebend. Der Vorstand hat bei der Ermessensausübung die Interessen sämtlicher relevanten Stakeholder zu berücksichtigen. Dies sind die Aktionäre, die Arbeitnehmer (Arbeit) und das Gemeinwohl. Der Vorstand muss und darf sich daher nicht ausschließlich von Aktionärsinteressen leiten lassen.
Sustainability-Compliance fördert Shareholder Value
Die bisherige Sustainable Finance-Regulierung und deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft verdeutlicht, dass die nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens mittelfristig keine Frage des Stakeholder Value, sondern des Shareholder Value sein wird. ESG-Compliance wird ein unverzichtbares Kriterium für den marktgerechten Zugang zu Fremd- und Eigenkapitalmärkten sowie zur Gewinnung institutioneller Investoren sein.
Vorstände und Geschäftsführer müssen sich schon jetzt mit den Anforderungen beschäftigen und das Unternehmen – im Interesse ihrer Anteilseigner – anhand von Nachhaltigkeitskriterien ausrichten.