Pflichten des Aufsichtsrats bei Steuerschäden der Aktiengesellschaft
Steuerliche Festsetzungskorrekturen und Nachforderungen der Finanzämter und des Bundeszentralamts für Steuern führen dabei insbesondere in folgenden Fällen häufig zu Schäden im schadensrechtlichen Sinne bei der steuerpflichtigen Aktiengesellschaft:
- Rückforderungen von Kapitalertragsteuererstattungen oder Versagung der DBA-Erstattung,
- Nacherhebung von Umsatzsteuer, etwa im Finanztransaktionsbereich,
- gescheiterte Inanspruchnahme umwandlungssteuerlicher Privilegierungen oder umwandlungssteuerschädliche Anschlussgeschäfte,
- gescheiterte Organschaften,
- Korrekturen aufgrund verdeckter Gewinnausschüttungen.
Steuerliche Korrekturen und Nachforderungen werden dabei in der Regel zeitnah bilanz- und P&L-wirksam, weil AO-Rechtsbehelfe und finanzgerichtliche Klagen in der Regel keine aufschiebende Wirkung haben und die nacherhobenen Beträge sofort geleistet werden müssen. Hierbei sind auch potenzielle Schäden aus steuerlichen Nebenleistungen besonders zu betrachten (Zinsen, Säumniszuschläge). Teilweise bietet sich eine freiwillige Vorauszahlung der Aktiengesellschaft an, um Zinsschäden gering zu halten.
Schadensabwehr/-haftung und allgemeine Organverantwortung/-zuständigkeit
Tritt ein Steuerschaden bei der Aktiengesellschaft ein, stellen sich Abwehr- und komplexe Haftungsfragen, die auch vom Aufsichtsrat zu prüfen und zu bewerten sind:
- Gegen steuerliche Festsetzungen und Nachforderungen kann sich die Aktiengesellschaft gegebenenfalls mit guten Erfolgsaussichten vor den Finanzgerichten wehren. Die Erfolgsaussichten einer solchen Abwehr müssen genau geprüft und bewertet werden. Prüfung, Bewertung und Abwehr fallen in die Verantwortung des Vorstands.
- Soweit ein Steuerschaden nicht abgewehrt werden kann, kommt eine Weiterreichung von Schadensanteilen an steuerliche Gesamtschuldner (§ 44 AO) und andere Beteiligte des steuerlichen Vorgangs in Betracht. Da jeder weitere Gesamtschuldner gegenüber dem zur Erfüllung durch die Finanzverwaltung herangezogenen Gesamtschuldner nur in Höhe seines individuellen Verursachungsbeitrages haftet, sind sämtliche potenziell Mitschuldenden oder Mithaftenden (und ihr jeweiliger Verursachungsbeitrag) präzise zu ermitteln und in die Mithaft zu nehmen. Auch diese Aufgabe fällt in die Verantwortung des Vorstands.
- Soweit der Steuerschaden nicht abgewehrt und/oder auf Gesamtschuldner abgewälzt werden kann, kommt die Haftung des steuerlichen Beraters der Aktiengesellschaft in Betracht, der zum steuerschadensstiftenden Geschäft beraten hat. Auch diese potenzielle Haftung ist genau zu prüfen, entsprechende Ansprüche sind zeitnah zu sichern und durchzusetzen. Auch diese Aufgabe fällt in das Ressort des Vorstands.
- Die Geschäfte und Gestaltungen, die den steuerlichen Schaden ausgelöst haben, sind durch den Vorstand verantwortet und veranlasst worden. Deshalb können sich aus steuerlichen Schäden auch Organhaftungsansprüche der Aktiengesellschaft gegen den Vorstand ergeben (§ 93 AktG). Die Beurteilung und Geltendmachung dieser Ansprüche obliegt dem Aufsichtsrat.
Spezifische Pflichten des Aufsichtsrats
Der Aufsichtsrat hat den Vorstand nicht nur allgemein zu überwachen, sondern bei relevanten Schäden der Aktiengesellschaft zu prüfen, ob daraus Organhaftungsansprüche der Aktiengesellschaft gegen Vorstandsmitglieder resultieren können. Ist dies überwiegend wahrscheinlich, hat der Aufsichtsrat diese Ansprüche gemäß den Vorgaben der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Vermeidung einer eigenen persönlichen Haftung grundsätzlich geltend zu machen. Von einer Verfolgung und Durchsetzung der Ansprüche darf er nur in eng begrenzten Ausnahmefällen Abstand nehmen.
Diese Aufgabe des Aufsichtsrats ist bei Steuerschäden anspruchsvoll, weil sie dem Aufsichtsrat unter Umständen nicht lediglich eine Überprüfung der Pflichtgemäßheit des Vorstandshandelns bei der Entscheidung über die schadensstiftende Maßnahme abverlangt, sondern ihn zu einer komplexen Gesamtwürdigung der Haftungsverhältnisse nötigt.
Eindeutige Pflichtmäßigkeit
Einfach ist es für den Aufsichtsrat, wenn er nach einer angemessenen Prüfung feststellen kann, dass die Vorstandsmitglieder bei Veranlassung des steuerschädlichen Geschäfts nachweislich ihre Pflichten beachtet haben. Zur Pflichtgemäßheit dürfte nach der sog. ISION-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehören, dass der Vorstand sich bei steuerlich schadensgeneigten Gestaltungen und Geschäften vor deren Durchführung von einem fachkundigen Experten ein Gutachten hat erstatten lassen, nach dessen Plausibilitätsprüfung keine relevanten Zweifel mehr daran bestehen konnten, dass die Gestaltung oder das Geschäft durchgeführt werden konnte. In solchen Fällen kann ein Pflichtwidrigkeitsvorwurf entfallen, so dass der Aufsichtsrat von einer Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder absehen kann. Allerdings liegt die Feststellung, dass die eingeholte fachmännische Begutachtung plausibel war, im Nachhinein häufig nicht auf der Hand. Denn die Begründung der Finanzverwaltung für die Korrektur oder Nachforderung stellt in der Regel die Vollständigkeit und/oder Richtigkeit des Steuergutachtens bereits in Frage.
Aufsichtsprogramm bei Zweifeln
- Kann ein Pflichtenverstoß der Vorstandsmitglieder nicht ausgeschlossen werden, stellt sich die Frage nach den dann bestehenden Beobachtungs-, Aufsichts- und Handlungspflichten des Aufsichtsrats. In der Regel wird der Aufsichtsrat nicht sofort nach Eintritt des Steuerschadens Organhaftungsansprüche durchsetzen müssen. Das ist nur dann der Fall, wenn Organhaftungsansprüche ansonsten zu verjähren drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird für den Verjährungsbeginn der Haftungsansprüche, die aus der Steuerkorrektur resultieren, regelmäßig auf den Zeitpunkt der Steuerkorrektur abgestellt, sodass eine Verjährung von Organhaftungsansprüchen bei Schadenseintritt nicht unmittelbar droht. Das muss aber nicht so sein. Die Verjährung kann insbesondere in Fällen der Rückerstattung der Kapitalertragsteuer oder Umsatzsteuer zeitnah drohen, weil für den Verjährungsbeginn in diesen Fällen u.U. auf den Zeitpunkt der Transaktion, die Kapitalertragsteuer oder Umsatzsteuer ausgelöst hat, abzustellen ist. Diese Gefahr der Verjährung hat der Aufsichtsrat unverzüglich nach Eintritt des Steuerschadens zu prüfen und zu vermeiden. In der Regel kann die Verjährung durch rechtzeitige Abgabe eines Verjährungseinredeverzichts des Vorstands vermieden werden.
- Bei der weiteren Behandlung durch den Aufsichtsrat ist zu bedenken, dass erst nach rechtskräftiger Entscheidung der finanzgerichtlichen Streitigkeiten mit dem Finanzamt und den zivilrechtlichen Streitigkeiten mit Gesamtschuldnern und Steuerberatern abschließend feststeht, ob und in welcher Höhe der Gesellschaft schlussendlich ein steuerlicher Schaden entsteht. Weil dies so ist, hat der Aufsichtsrat auch die finanzgerichtliche Verteidigung und die zivilrechtliche Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegenüber Gesamtschuldnern und Steuerberatern laufend zu überwachen und auf ihre Richtigkeit, Vollständigkeit und Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Denn Abwehr und Inanspruchnahme werden durch den Vorstand entschieden und gesteuert. In gewisser Weise befindet sich der Vorstand hier in einem Interessenskonflikt, weil er zur Vermeidung von Organhaftungsansprüchen ein besonderes persönliches Interesse daran hat, dass der steuerliche Schaden finanzgerichtlich abgewehrt oder auf Gesamtschuldner oder Steuerberater abgewälzt werden kann. Insoweit ist der Aufsichtsrat gut beraten, die Steuerung und Durchführung dieser Verfahren eng zu begleiten, um ausschließen zu können, dass diese (kostenträchtigen) Verfahren vor allem zur Vermeidung einer persönlichen Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder geführt werden.
- Bei der Entscheidung über die Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen hat der Aufsichtsrat auch zu beachten, dass eine prozessuale Inanspruchnahme zu Nachteilen für die Gesellschaft führen kann. Denn der Aufsichtsrat müsste sich in einer solchen Organhaftungsklage auf den Standpunkt der Finanzverwaltung stellen und darlegen, dass es letztlich ein eigenes Versagen der Vorstandsmitglieder war, das zum steuerlichen Schaden geführt hat. Ein solcher Vortrag kann – je nach Lage des Falls – zu prozessualen Nachteilen und Reputationsschäden der Aktiengesellschaft führen. Um diese Schäden zu vermeiden, ist es ein erwägenswerter Weg, vorläufig potenzielle Ansprüche gegenüber dem Vorstand lediglich anzumelden (und die D&O-Versicherung hierüber zu informieren) und ansonsten lediglich vor Verjährung und sonstigem Verlust (asset protection) zu sichern. Die Grenze dieser grundsätzlich zulässigen Strategie dürfte aber dann erreicht sein, wenn es nach Prüfung wenig wahrscheinlich bis ausgeschlossen erscheint, dass man den Steuerschaden finanzgerichtlich abwehren oder auf Gesamtschuldner/Steuerberater abwälzen kann.
- Neben der Überwachung des konkreten steuerlichen Schadensfalls dürfte dem Aufsichtsrats – je nach Sachlage – die Pflicht obliegen, die Kontrolldichte in Bezug auf die steuerliche Compliance der Aktiengesellschaft zu erhöhen und insbesondere Notwendigkeit, Status und Wirksamkeit der Implementierung eines innerbetrieblichen Kontrollsystems (Steuer-IKS) zu prüfen und zu bewerten.
Besondere Brisanz dürften in näherer Zukunft (zwingende Schlussabrechnung zum 30.06.2023) die Rückforderungen von Corona-Hilfen entwickeln. Hier drohen Aktiengesellschaften erhebliche Schäden, für die es der Ermittlung von Verursachungsbeiträgen bedarf (Vorstand /Berater). Auch insoweit wird den Aufsichtsräten die Arbeit also nicht ausgehen.